»Bullenwagen klauen und Adorno rezitieren«? Veranstaltungsreihe zum Verhältnis von Theorie und Praxis

„Komm, wir machen es uns auch einfach nicht leicht“ (Frittenbude)

Die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis scheint auf den allerersten Blick ein Evergreen in linken Debatten zu sein. Schaut man genauer hin, finden Diskussionen dazu aber eher am Rande statt – in Kneipengesprächen, ganz am Ende von Vortragsveranstaltungen, mitunter auch einfach gar nicht. Oder aber gleich so, dass einige »Praxisorientierte« jede inhaltliche Bestimmung, die über Demo-Parolen hinausgeht, als »nutzlos« ächten oder manche »Theoretiker*innen« über jegliche Praxis die Nase rümpfen, weil sie eben Praxis ist. Sicher unterbleibt eine eigenständige Thematisierung des Verhältnisses von herrschaftskritischer Theorie und emanzipatorischer Praxis auch deswegen, weil beide Seiten des Verhältnisses einen konkreten Bezugspunkt brauchen – von ihrem Gegenstand, wie von ihrer historischen Gegebenheit her: Die Theorie des bürgerlichen Staates ist eben eine andere als die des Geschlechterverhältnisses, sinnvolle Praxis zu Zeiten des heraufziehenden Nationalsozialismus ist eine andere als eine in Paris Ende der 1960er Jahre. Trotz der Schwierigkeiten, die in der Frage nach Theorie und Praxis selbst liegen, lässt sich doch einiges sinnvolles darüber sagen. Und dass dies nur selten geschieht, liegt eben auch an den oben genannten, weitverbreiteten Einseitigkeiten: vom Einzelfall völlig losgelöster, verallgemeinernder Praxisverachtung und Theoriefeindlichkeit, die sich jeder Reflexion verweigert.

»Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell ›originelle‹ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten« (Antonio Gramsci)

Als neuer politischer Zusammenhang in Hamburg ist es unser Anliegen, Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und den von ihr gerahmten Herrschaftsverhältnissen und Spezifika zu üben. Diese möchten wir theoretisch fundiert entwickeln, verbreiten und in der Praxis Ausdruck verleihen. Wir reklamieren mit einer solchen Entscheidung für das Praktizieren von Theorie und das Nachdenken über Praxis nicht, eine vermeintliche »Goldene Mitte« gefunden zu haben. Denn: Wer etliche Jahre mit der Lektüre gesellschaftskritischer Texte zubringt, muss ganz und gar nichts falsch machen; und spontan aufflammender, unbedachter Protest gegen konkrete Zumutungen hat häufig sein gutes Recht. Problematisch ist daran solange rein gar nichts, wie Theorie nicht das Streben nach Erkenntnis durch Selbstdarstellung ersetzt und solange Praxis sich nicht in rastloser Betriebsamkeit gegen Reflexion panzert. Die genannten Einseitigkeiten eben.

Theorie, Kritik, Praxis – was ist das eigentlich? Was trennt sie und was nicht, wieso ist Theorie so wichtig ist und welche Formen, Möglichkeiten und Grenzen hat Praxis in einer von Staat und Kapital verwalteten Gesellschaft? Kurz: Wie kann die Abschaffung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gelingen?

»Verzweiflung, die, weil sie alle Auswege vesperrt findet, blindlings sich hineinstürzt, verbindet noch bei reinstem Willen sich dem Unheil« (Theodor W. Adorno)

Das Thema hat – gerade weil es zunächst so abstrakt ist – ganz unterschiedliche Seiten, die wir uns gerne genauer ansehen wollen: Zunächst einmal ist die Frage nach Theorie und Praxis in der langen und nicht unbedingt makellosen Geschichte der Linken keineswegs neu. Wie wurde darüber bisher diskutiert? Welche Fassungen erwiesen  sich als falsch, aus welchen Erfahrungen lassen sich Erkenntnise für das Hier und Heute ziehen? Kann man mit der Kritischen Theorie die Frage beantworten, wieso so viele linke Bewegungen die Theorie einer besinnungslosen Praxis opferten?

Noch einmal zur »theoretischen Praxis«: Wieso reichen guter Wille und jede Menge Mitgefühl keineswegs aus, um kapitalistischer Herrschaft revolutionär beizukommen, wieso ist eine kritische Theorie dazu so wichtig? Ebenso interessant ist sicher, wie Theorie überhaupt zu Kritik wird, welchen Maßstab Kritik haben sollte und welchen nicht. Sollte das Ziel von Kritik sein, Menschen zu überzeugen und wenn ja wie? Was trennt Theorie von Praxis?

Begibt man sich auf das Feld der »praktischen Praxis«, ist man sofort mit allerlei kleinen Kämpfen, großen Bewegungen und realen Widersprüchen konfrontiert. Unter diesen finden sich verärgerte Bürger*innen, die konkreten Zumutungen und Verschlechterungen entgegenwirken wollen, genauso wie linke Randale für besetzte Häuser. Aber auch: Konformistische Rebell*innen, die sich in kritischer Pose über vermeintliche Weltverschwörungen ereifern und wenn es dann ganz schlimm kommt, lagern wütende Deutsche vor Geflüchtetenunterkünften. Wie kann aus der Perspektive eine radikalen Kritik eine sinnvolle Bezugnahme auf die Vielzahl bestehender Praxisformen aussehen? Dabei sein ist alles? Vornehme Zurückhaltung? Oder something completely different? Wie können häufig angemahnte »Interventionen« etwas anderes sein als ein bloßes Mitmachen? Wie umgehen mit der Schwierigkeit, dass es in vielen Bewegungen um rein systemimmanente Interessen geht, radikale Gesellschaftskritik aber viel mehr will als nur ein kleines Stückchen mehr vom Kuchen? Welche Möglichkeiten hat eine theoretisch reflektierte Praxis in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen?

Mit den vielfältigen Bewegungen, die sich im Zeichen der Krise in Südeuropa solidarisch organisieren – aber auch mit reaktionären Formierungen konfrontiert sind -, ist ein Gegenstand gegeben, an dem sich aktuell über Theorie und Praxis diskutieren ließe. Auch in Deutschland hat sich ein bisschen was bewegt: Eine verkürzte und mitunter sehr regressive »Bankster«-Schelte war genauso zu bestaunen wie das knallbunte »Blockupy«-Spektakel. 2012 haben auf dem antikapitalitsichen europäischen Aktionstag M31 auch viele Linksradikale protestiert. Wir wollen gerne diskutieren, was Krise, rassistische Mobilisierung und Krisenproteste für eine fundierte Gesellschaftskritik bedeuten. Sollte man sich zwischen Kapitalismuskritik und Antifaschismus entscheiden? Oder gehört beides nicht doch zusammen? Wo ist eine eigene Praxis sinnvoll, was bringt Symbolpolitik und was ist von der linken Beteiligung an Großevents zu halten? Das werden wir gemeinsam mit euch diskutieren!

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