23. Oktober | 19 Uhr | Rote Flora:
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Bullenwagen klauen und Adorno rezitieren? Zum Verhältnis von Theorie und Praxis«.
Will man politisch intervenieren, muss man sich fragen: Wo kommt das Elend her, was man bekämpfen will und gibt es einen systematischen Grund dafür? Jede Praxis, der nicht eine derartige Analyse vorausgeht, läuft dreierlei Gefahr: aus Empörung zu handeln, das Falsche zu bekämpfen und die eigene Bedeutung zu überhöhen. Aus Empörung zu handeln ist schlecht, weil nicht jede Empörung über die Zustände einen guten Grund hat, Empörung vielmehr oft genug die herrschenden Verhältnisse affirmiert. Das Falsche zu bekämpfen wäre wirklich blöd, weil man so ziemlich sicher nicht sein Ziel erreicht. Die eigene Bedeutung zu überhöhen führt im Resultat genau zu der Frustration, die Praxisfans gerne jenen vorwerfen, die einen Begriff vom kritisierten Gegenstand einfordern, bevor man sich auf die Straße oder vor das Werkstor stellt. Das Bittere an den hiesigen Verhältnissen ist vielmehr, dass der Ausgangspunkt noch für jede politische Aktivität die Einsicht in die eigene Ohnmacht sein muss – weder hat man sich die politische noch die ökonomische Position ausgesucht und daran kann man unmittelbar auch nichts ändern. Außerdem sind diverse Ideologien zur Rechtfertigung dieser Verhältnisse so unglaublich erfolgreich, dass Gesellschaftskritiker*innen anerkennen müssen, dass sie ganz schön alleine da stehen.
Um das zu ändern, braucht man das Rad nicht neu erfinden. Es fehlt nicht an der einen neuen Methode, die den Durchschnittsbürger*innen Irrsinn und Brutalität von Rassismus und Sexismus endlich klar werden lässt. Es mangelt nicht an der einen kämpferischen Erfahrung, die der Arbeiterin im Callcenter die systematische Ausbeutung vor Augen führen könnte. Das, was die meisten von ein paar Einsichten abhält, ist die einfache und harte Überzeugung, dass es im Großen und Ganzen schon passt, wie es hier läuft und ein paar Reformen mit dem aufräumen könnten, an dem sich mehr oder weniger Leute stoßen. Und auch Linksradikale, die vielleicht schon mal in das Buch »Das Kapital« geschaut haben, machen diverse »praktische Vorschläge«, die direkt oder indirekt Kapital und Ware, Nation und Staat geistig umarmen. Woran man wieder merkt, dass es auf die richtige Analyse ankommt.
Vernünftige Kritik einzufordern, bevor man sich in die politische Aktivität stürzt, ist übrigens alles andere als zu sagen, es gäbe politisch nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Aufklärung ist bitter nötig. Zum Beispiel darüber, dass nicht die Banken, die Politiker*innen und die Chef*innen zu bekämpfen sind. Weil sie lediglich Charaktermasken sind, die ihre Funktion für Kapital und Staat erfüllen – und mit ihrer Bekämpfung das Prinzip nicht ins Visier gerät. Will man etwa gegen die Zehntausenden Hungertoten etwas unternehmen, muss man die Prinzipien benennen und bekämpfen, die einerseits den Überfluss an Essen und gleichzeitig das Elend und den Mangel hervorbringen. Wie unsinnig oder vernünftig die konkrete Praxis dann sein mag – ohne die richtige Theorie ist sie jedenfalls verloren und affirmiert auch in ihrer linksradikalen Fassung nicht selten genau die Prinzipien, die sie zu bekämpfen vorgibt.
Diskussionsveranstaltung mit Ilka Schröder (schreibt unter anderem für Jungle World, konkret und Phase 2). Von 1999 bis 2004 war sie Abgeordnete des Europaparlaments. 2001 trat sie aus ihrer Partei Bündnis90/Die Grünen aus, da sie die »Politik der Grenzabschottung gegenüber Flüchtlingen« und den »Umbau der Bundeswehr in eine effektive Angriffstruppe« nicht länger mittragen wollte.